1. Preis (500 Euro): "Tagebuch der Gefühle", Halle (Saale)

Platz 1 | Tagebuch der Gefühle | Reinhard-Höppner-Engagementpreis 2021

Laudatio – Renate Höppner, Pfarrerin i. R.

Ehe ich die Gruppe nenne, die in diesem Jahr den ersten Preis des Reinhard-Höppner-Engagementpreises bekommt, möchte ich kurz eine Erinnerung teilen, die mich sehr geprägt hat und die es mir ganz leicht gemacht hat, diese Gruppe mit dem ersten Preis wirklich von Herzen auch zu nominieren.

Ich bin in Erfurt geboren und aufgewachsen. Und als ich 14 Jahre alt war, haben wir mit unserer Konfirmandengruppe die Synagoge in Erfurt besucht und die Geschichte der jüdischen Gemeinde gehört, die sehr bewegend, wie in vielen anderen Städten unseres Landes natürlich auch gewesen ist. Und da hing ein Bild an der Wand und der Rabbiner fragte uns 50 Konfirmanden: „Wer ist das?“ Und ich werde mein Erschrecken bis heute nicht vergessen, dass ich damals die Einzige war, die sich gemeldet hat. Es war nämlich ein Bildnis von Anne Frank. Und damals weiß ich genau, habe ich mir vorgenommen, ich möchte mein ganzes Leben lang dafür sorgen, dass Jugendliche nicht nur dieses Bild, sondern diese Geschichte dahinter und unseren eigenen deutschen Anteil daran, an dieser schwierigen Geschichte, wirklich kennen und erinnern.

Und als in diesem Jahr neben vielen wunderbar anderen Vorschlägen auch dies zur Auswahl stand – diese "Tagebücher der Gefühle" aus Halle – war mir ziemlich schnell klar, das ist etwas, was wirklich auch ein Herzensprojekt von meinem Mann gewesen ist: Die Erinnerung wachhalten und die Erinnerung umwandeln in die Frage: Was können wir heute daraus lernen?

Antisemitismus ist von jeher ein schwieriges Thema in Deutschland gewesen. Und die Jugendlichen, die in Halle sich seit über 4 Jahren damit beschäftigen – beschäftigen sich seit zwei Jahren ja noch mal ein Stück intensiver damit, nachdem sie einen Freund durch diesen antisemitischen Anschlag an der Synagoge in Halle verloren haben – mit der Frage: Woher kommt der Antisemitismus? Was können wir dagegen tun und wie können wir unser Leben so gestalten, dass möglichst viele Menschen darüber aufgeklärt werden? – nicht nur die Bilder kennen, die Geschichte des Antisemitismus, sondern wirklich aus innerstem Empfinden heraus sich dagegenstellen, mit aller Macht und all das tun. Deswegen ist diese Gruppe Jugendlicher, die sich mit diesen Biografien beschäftigt, die in den Bibliotheken, im Archiv und bei den Nachbarn recherchiert – die sich mit den Fragen beschäftigt: Wo kommen diese Menschen her, wo sind sie hingegangen, wo sind sie umgebracht worden? – und sich dann mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen – das ist gut für die Bewältigung der Vergangenheit, aber auch gut für unsere Gegenwart, weil sie immer die Frage stellt: Wie leben wir miteinander und was macht Antisemitismus heute mit uns? Wo erleben wir in unserer Gesellschaft, dass Vorurteile auf einmal ganz schwierig werden? Und das ist ein Thema, da muss ich sagen verdient diese Hallenser-Jugendlichen-Gruppe wirklich zu Recht diesen ersten Preis. Das ist ein Thema, das mein Mann immer sehr beschäftigt hat – die Frage: Wie machen Vorurteile unsere Gesellschaft kaputt?

Eines der Lieblingsstücke von Max Frisch meines Mannes ist "ANDORRA" gewesen. Diese Geschichte des andorranischen Juden, in der Max Frisch so kurz erzählt, wie ein junger Mann für einen Juden gehalten wird und ganz schnell an ihm alle jüdischen Eigenschaften entdeckt, die man einem Juden so zuschreibt. Die Geschichte ist kurz erzählt: Die meisten, schreibt Max Frisch, taten ihm nichts – also auch nichts Gutes. Am Ende dieser kurzen Geschichte, die dann später ein Theaterstück wurde, wird dieser junge Mann gelyncht – eben, weil er ein Jude ist. Und kurze Zeit später stellt sich heraus, dass er ein Andorraner wie unsereins war. Er war nämlich ein Findelkind. Und diese Geschichte habe ich oft mit meinem Mann, mit Jugendlichen gelesen und auch das Theaterstück mit verteilten Rollen gesprochen. Und daher geht es eben um die Frage: Wie prägen Vorurteile unser Leben so weit, dass die Menschen sich auch fühlen, wie ihr Vorurteil? Und genau das ist in dem andorranischen Juden von Max Frisch wirklich auf den Höhepunkt getrieben.

Dass die Jugendlichen von heute in Halle sich damit beschäftigen und sagen: Wir wollen uns dagegenstemmen, wir wollen keine Vorurteile gegenüber Juden, gegenüber Muslimen, sondern wir wollen wirklich eine offene Gesellschaft sein und dass sie dafür ihre Freizeit opfern, dafür lernen, arbeiten, ins Archiv gehen und mit vielen Menschen miteinander reden – dafür bin ich Ihnen unendlich dankbar und gratuliere von ganzem Herzen den ganzen Verfassern. Und weil es viele Jugendliche sind, die dazu beigetragen haben, dass jetzt auch der Vierte Band der "Tagebücher der Gefühle" herausgegeben werden kann, kann ich keinen Namen extra nennen.

Ich gratuliere von ganzem Herzen zu diesem ersten Preis und wünsche Ihnen für Ihr weiteres Engagement – nicht nur für das Sortieren in der Geschichte und das Forschen – sondern vor allem auch für Ihr Engagement in der Gegenwart und für das Gestalten einer Gesellschaft ohne Vorurteile gegenüber Juden, gegenüber Muslimen, gegenüber Andersdenkenden, dass Sie wirklich auch Erfolg haben und dass Sie den Mut haben, gegen diese Vorurteile, die so viel in unserer Gesellschaft momentan auch kaputt machen, anzugehen. Und ich wünsche uns, von uns Älteren auch wirklich den Rückhalt für diese Jugendlichen, dass wir ihnen den Mut machen und dass wir ihnen auch ein Stück Kraft und Rückendeckung geben. Und das wünsche ich Ihnen von Herzen, dass das mit diesem ersten Preis des Reinhard-Höppner-Engagementpreises passiert – das ist ganz im Sinne meines Mannes. Also, ganz herzlichen Glückwunsch dazu! Danke!