1. Preis (500 Euro): offen.bunt.anders. | IG des Volkssolidarität Landesverband Sachsen-Anhalt e. V. | Regionalverband Elbe-Mulde

Laudatio – Renate Höppner, Pfarrerin i. R.

Mitteldeutsche Idylle: eine Kleinstadt, mitten im irgendwo, fünf Türme hat die Stadt, 1285 das erste Mal urkundlich erwähnt, einen berühmten Sohn hat sie, sein Name ist in der ganzen Welt bekannt. Im Dreißigjährigen Krieg wurde sie fast vollständig zerstört, aber schnell wieder aufgebaut. Sie wurde kursächsischer Amtssitz und kam durch den Beschluss des Wiener Kongresses zu Preußen. Sie liegt an einer viel befahrenen Bahnstrecke und so siedelten sich viele Betriebe dort an. Kreisstadt war sie bis 1994, erst mit der Kreisgebietsreform verlor sie diesen Status. Sie hat heute fast 11500 Einwohner und liegt am Rand der Dübener Heide und hat 44,44% der Grundfläche des Gazastreifens mit knapp 2 Mio. Einwohnern.

Sie haben es längst erraten. Wir sind in Gräfenhainichen. Der Stadt Paul Gerhardts.

Gut lebt es sich dort. Arztpraxen gibt es genug. Schulen jeder Art: 3 Grundschulen und das Paul-Gerhardt-Gymnasium, die Sekundarschule „Ferropolis“. Zwei Monate im Jahr ist viel junges Leben in der Gegend, 100.000 kommen da schon zusammen, auch ein Wirtschaftsfaktor für die Stadt, die Festivals in Ferropolis und Umgebung prägen in den Sommermonaten das Leben in der beschaulichen Kleinstadt. Da kommt die Welt nach Gräfenhainichen. Auch das nahe Wörlitzer Gartenreich sorgt für Touristen in der Stadt. Und die Stadt selbst hat viel zu bieten: die Stadtkirche St. Marien, die Paul-Gerhardt-Kapelle, die katholische Kirche, das Paul-Gerhardt-Haus, den Wasser- und Aussichtsturm, den oberen und unteren Stadtturm, die Postdistanzsäule, das Buchdruckmuseum. Ich habe Ihnen allen hoffentlich Mut gemacht, im nächsten Jahr mal einen Ausflug in dies Stadt zu planen – es lohnt sich.

Nun gab es 2014 durchaus noch leere Wohnungen in der Stadt. Und so wurde vernünftigerweise überlegt, jungen Flüchtlingsfamilien dort ein Zuhause zu geben. Es gab keine Einrichtung für Flüchtlinge in Gräfenhainichen. Gleichzeitig kam das Engagement der Familie Künemund: “Wir organisieren kleine Spenden, wir helfen den Flüchtlingen die Sprache zu lernen. Wir helfen, sie in örtliche Vereine zu integrieren und einmal pro Woche machen wir ein Flüchtlingscafé.“ Alles sehr gute Bausteine zur Integration. Aber sie ernteten Hass, waren Drohungen ausgesetzt, aber sie haben sich trotz der vielen Drohungen nicht unterkriegen lassen. „Wir machen das ja nicht, damit es uns gut geht, sondern wir machen es für die Stadt und die Region.“ Ja, das ist eine Weisheit, die man schon in Texten des Alten Testamentes lesen kann, wenn es den Fremden gut geht, geht es den Einheimischen auch gut. Wir sollten doch inzwischen klüger geworden sein. Das waren aber die nicht, die sogar mit scharfer Munition auf Häuser in Gräfenhainichen geschossen haben, in der sich die Flüchtlinge trafen. Da kam es dann zur Gründung des Vereins “offen.bunt.anders.“.

Die engagierten Gräfenhainicher wollten ihr Engagement für die Flüchtlinge auf feste Füße stellen.

Nun haben die Gräfenhainicher ihre Vereinslandschaft, die schon reich war, noch bunter gemacht. Da gibt es jetzt den Fußballverein, den Schwimmverein, den Tennisverein, den Handballverein, den Bergmannsverein, Ferropolis e.V., die Paul Gerhardt Gesellschaft und eben den Verein „offen.bunt.anders.“. Mir kommt es vor, als wäre er genau noch nötig gewesen, um das Bild rund zu machen.

Seit Jahren setzen sie sich ein, dass all die Flüchtlinge, die in Wohnungen mit ihren Nachbarn Tür an Tür wohnen integriert werden in die Stadtgemeinschaft. Sie tun es beharrlich mit all den kleinen Schritten, die notwendig sind. Sie bieten Deutschunterricht an, eine gute Aufgabe für ältere Menschen, die Lebenserfahrung haben und die nötige Geduld. Und was die Flüchtlinge da leisten, ist so enorm: für viele eine andere Schrift, dann die komplizierte deutsche Grammatik, erklären Sie doch mal mit einfachen Worten die vollendete Zukunft, diese Zeitform kennen wenige Sprachen oder erklären Sie mal den Unterschied zwischen „üblich“ und „gewöhnlich“, den hat unser schwedischer Gastsohn in einem Jahr nicht verstanden. Oder warum „gut“ mehr ist als „besser“. Deutsch als Fremdsprache ist richtig schwer und die meisten bei uns sagen einfach so dahin, die sollen doch erst mal unsere Sprache lernen. Die haben keine Ahnung, wovon sie reden. Zweimal die Woche Sprachunterricht. Jeden Dienstag Treffen, jeden Donnerstag Begegnungscafé, alles ehrenamtlich. Begegnungen mit Kindern und Erwachsenen, mit allen Hautfarben, mit allen Religionen. Und sie leisten damit auch viel Integrationsarbeit für die Flüchtlingsfamilien selbst. Sie müssen hier sensibel an der Seite der Familien stehen: die Kinder lernen oft in atemberaubender Geschwindigkeit die deutsche Sprache, sind dann Chefdolmetscher in der Familie, lernen Zusammenhänge in der Schule, die der Vater in Afghanistan niemals lernen konnte. Auch da arbeiten die Mitglieder des Vereins sensibel mit den Familientreffen dahin, dass die Familien gemeinsam lernen können, ohne dass der Bildungsvorsprung jetzt einfach umgekehrt wird in den Familien, das würde auch zu unlösbaren Problemen führen. Viele Vereinsmitglieder investieren auch ihre Zeit in die Begleitung der Flüchtlingsfamilien auf die Ämter und Behörden. Hilfen bei Umzügen etc. ist selbstverständlich. Eine Kleiderkammer wird auch vom Verein betrieben und hilft den Familien, die es brauchen sehr und das sind nicht nur Flüchtlingsfamilien. Die Frauen haben eine besondere Begegnungsmöglichkeit beim Frauencafé jeden 1. Dienstag im Monat. Diese ganze Arbeit wird ehrenamtlich geleistet. Und in den Gesprächen muss viel bearbeitet werden: die erlebten Traumata, die individuellen Fluchtgeschichten, die unterschiedliche Stellung der Geschlechter, die kulturellen Differenzen. Und die beste Art, die der Verein gefunden hat, miteinander zu lernen ist Feste miteinander feiern: das Integrationsfest, den syrischen Nationalfeiertag, den Kindertag, Weihnachten – Feste miteinander feiern verbindet auf besondere Art und Weise. Sich über Back- und Kochrezepte, die man gleich probieren kann, austauschen und so kennenlernen.

Das dies auch nach so anstrengenden Jahren wie nach den Pandemiejahren weitergeht, ist auch ganz wesentlich dem Motor des Vereins zu verdanken, Hardo Pacyna, der sich mit all seiner Kraft und Nüchternheit für die Belange des Vereins einsetzt und wunderbare MitstreiterInnen an seiner Seite hat, die ich leider nicht alle mit Namen nennen kann, aber sie sind für mich alle besondere Menschen, die bereit sind, für ihren Traum einer offenen bunten Gesellschaft, viel Kraft zu investieren. Sie setzen sich immer wieder über Anfeindungen hinweg, sie lassen sich nicht politisch instrumentalisieren, sie erinnern die Politiker auf Lokal- und Landesebene an ihre Aufgabe, die Gesellschaft zusammenzuhalten und für Gerechtigkeit gegenüber jedermann, unabhängig von Geschlecht, Abstammung, Rasse, Sprache, Heimat und Herkunft, Behinderung, politischer und religiöser Anschauung zu üben. Dafür möchte ich von ganzem Herzen Ihnen allen danken.

Ich tue dies hier nur stellvertretend. Der Reinhard-Höppner-Engagementpreis trägt den Namen meines wunderbaren Weggefährten, der über vierzig Jahre an meiner Seite war. An diesem Adventssonnabend wäre er 75 Jahre alt geworden.

Reinhard hat in einem Referat in Hildesheim zu einem Ehrenamtstreffen am 11.7.2012 folgendes gesagt und mir als Pfarrerin sei dieses Zitat gestattet:
„Alles muss sich rechnen. Das mag zwar einem gewissen ökonomischen Sachverstand von heute entsprechen. Der biblischen Botschaft entspricht es nicht. Ich will Ihnen dazu eine Geschichte aus der Bibel erzählen. Es ist die Geschichte „Vom reichen Mann und vom armen Lazarus“. Der eine ist reich, lebt in Saus und Braus. Der arme Lazarus ist im wahrsten Sinne des Wortes auf den Hund gekommen. Er lebt von den Brocken, die die Hunde ihm übriglassen. Der reiche Mann ist offenbar der Überzeugung: Solidarität rechnet sich nicht.

Nun setzt die Bibel Himmel und Hölle in Bewegung, um zu zeigen, dass sich Solidarität doch rechnet, oder etwas weniger ökonomisch: das sich Solidarität doch lohnt. Beide sterben. Der reiche Mann kommt in die Hölle und leidet Höllenqualen. Der arme Lazarus kommt in dem Himmel, in Abrahams Schoß, der Inbegriff von Geborgenheit. Erst jetzt ist ein tiefer Graben zwischen ihnen erkennbar, der nicht überbrückt werden kann. Hätte der reiche Mann langfristig gedacht, das Modewort dafür heißt „nachhaltig“, dann hätte er wohl bemerken können, dass Solidarität sich lohnt. Manche denken ja, diese Geschichte wäre eine, die die Armen vertrösten soll auf ein besseres Jenseits. Das kann aber nicht sein. Sonst hätte ja Lazarus Abraham bitten müssen, doch Boten zu seinen Genossen, die noch auf der Straße liegen, zu schicken mit der Nachricht: Es ist ganz schön in Abrahams Schoß. Das geschieht aber nicht. Stattdessen bittet der reiche Mann, Boten zu seinen Brüdern zu schicken, damit sie ihnen erzählen, dass Solidarität sich doch rechnet.

Nur wer kurzfristig denkt, in den Schwankungen der täglichen Aktienkurse, in den Bilanzen des nächsten Quartals, in der Frist bis zur nächsten Wahl, nur der kann auf die Idee kommen, dass es ohne Solidarität eine gute, eine gerechte Gesellschaft geben kann. Wer langfristig, wer nachhaltig denkt, der weiß: Solidarität lohnt sich, ist auch im eigenen Interesse.

Zurück zum Ehrenamt. Das zeichnet sich ja im Unterschied zum Amt dadurch aus, dass es unentgeltlich ausgeübt wird. Für Gotteslohn, sagt man. Der Lohn im Himmel. Das folgt ja eigentlich auch der Logik: Alles muss sich rechnen. Nimmt den Himmel als Hilfskonstruktion dazu, um zu sagen, auch ein Ehrenamt rechnet sich. Ich möchte auch in diesem Fall der Logik widersprechen. Es geht nicht um den Lohn im Himmel. Da gelten die ganzen Rechengesetze, diese Berechnungen nicht. Das wäre moderner Ablasshandel. Es geht um unsere Erde. Und sie ist wertvoll genug, sich um sie zu kümmern.

Ich behaupte: Genau das, was wir ohne Berechnung tun, hält unsere Gesellschaft zusammen. Die unsichtbare Hand des Marktes, von der man behauptet, sie ordne alles zum Guten hin, baut auf Egoismus, bringt Konkurrenz und Wettbewerb, von denen wir uns Fortschritt versprechen. Sie lechzt nach Wachstum, das unseren Globus zu sprengen droht. Wo Menschen ohne den Hintergedanken von Gewinn das Nötige tun, da kann sich Leben entfalten. Der schöne Satz: „Dienet einander, ein jeder und eine jede mit der Gabe, die er oder sie empfangen hat“, deutet auch darauf hin: Jeder kann etwas. Jeder soll das, was er kann, einbringen.

Sie tun das in Gräfenhainichen in bewundernswerter Weise. Das zu ehren, ist nicht nur geboten und angemessen, sondern auch eine Ermutigung für andere, zu überlegen, was können wir bei uns tun, dass Integration und Miteinander besser gelingt, dass für Rassismus und Antisemitismus kein Raum mehr ist.

In der Begründung des Vorschlags Euch diesen Preis zu geben, hieß es: Man sagt scherzhaft hier in Gräfenhainichen: Der Traum von Martin Luther King spielt in der Gartenstraße in Gräfenhainichen. Martin Luther King hat in seiner berühmten Rede vor dem Lincoln Memorial im August 1963 u.a. gesagt: „Ich träume davon, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, wo man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilt.“ Ja, genau das lebt ihr. Ihr habt mit „offen.bunt.anders.“ ein Zuhause geschaffen für die unterschiedlichsten Menschen, die Weihnachtsgans mögen und Lammbraten, die Tee oder Bier mögen, die Baklava oder Stolle essen. Macht weiter, dass die urdeutsche Oma mit dem minderjährigen syrischen Jungen Backrezepte austauschen kann, Ihr vielen Familien Feste schenkt mit Hüpfburg, Schminken, Jahrmarktspielen und gemeinsamen Essen. Das ist der Weg in die Zukunft.